Handschrift 2024 Von der Hand ins Hirn

Tag der Handschrift 23.1. 2024 Literaturhaus Halle
Von der Hand ins Hirn – Zeichnen ist das neue Schreiben?
Zweites Gespräch über den Wandel der Handschrift.

Was als Widerstand […] erscheint, ist […] die Voraussetzung des Gelingens.“ (Thomas Fuchs)

Die Handschrift als Mittel zum Ausdruck ist nicht mehr im alltäglichen Gebrauch. Wir stellen die Frage aus dem letzten Jahr: Handschrift: ein demokratisches Kulturgut im Wandel? Am Beispiel der visuellen Übersetzung: das „Graphic Recording“, eine Technik der Informationsvermittlung die sich für die Nutzung auf Social Media Kanälen bestens eignet: schnell auf einen Blick zu erfassen, man muss nicht einmal mehr lesen können: „story telling“ in „leichter Sprache“ für Erwachsene. Einbahnstraße oder Autobahn? Wo geht es hin?

2024 scheint die Erkenntnis, dass die Handschrift ein wesentlicher Anker für Merkprozesse im Gehirn ist, auch in der breiteren Öffentlichkeit angekomme zu sein, damit kommt es aus der nerdigen „Schönschreibecke“ heraus: als ich vor Jahren begann mich für den Zusammenhang zu interessieren, wurde es oft als gestrig empfunden, dabei geht es nicht um das Schön-Schreiben – meine Schrift schrammt selbst an den Grenzen der Lesbarkeit entlang. jetzt scheint das Thema brisanter zu werden, ich vermute weil erste Verluste spürbar werden, die Handschrift auch in der Schule nach und nach merkbarer verschwindet (Finnland schon längst). Es ist ein übergreifendes Thema, das viele Disziplien verknüpft: schöne Künste, Hirnforschung, Pädgogik, Philosophie, Digitalisierung: Body and Brain. Spannend!

Viele verschiedene Gespräche und Lektüren: das Thema verknüpft aktuelle Prozesse und Bereiche miteinander: Bildung, der Verlust der Bücher, die Digitalisierung, die Anwendung von KI: z.B. mit Transkribus bei der Übersetzung von Sütterlin-Text:

https://readcoop.eu/de/transkribus/suetterlin-uebersetzen/

Poesie-Album, aus der Sammlung von Helmut Brade, Übersetzt mit Transkribus

ChatGPT, ebenso philosophische Gedanken, wie die Bildung der Persönlichkeit, die mit der Aneigung von Wissen zusammen hängt. „Schreibend denken“: das Lesen von Texten, Büchern, Literatur. Der Kreislauf des Lesens und Schreibens: vom Eingang der Worte über das Auge – die Netzhaut – in das Hirn (Helmut Brade: „Schrift zeichnen kalibriert das Gehirn“), in den Köpers ist (Fuchs: „Nicht das Hirn denkt, sondern der ganze Mensch.“): im Hirn wird das Gelesene verarbeitet, dann schreibe ich meine Gedanken wieder mit der Hand nieder, dabei lesend verstehe ich, was ich schreibe. Es geht um nicht ohne die Leiblichkeit, bei einer gleichzeitigen Dialektik: ich zerlege das Wort automatisch, unbewusst über den Körper, den Arm, die Hand be-griffen, in einzelne Buchstaben, während ich es aus einem Strich durch die Federspitzen auf den Punkt bringe.

Diese Prozesse sind einem großen Wandel ausgesetzt, die Handschrift ist nur eine kleine Bugwelle, und warscheinlich ist sie bereits jetzt Geschichte.

https://www.handfacts.ch/wunderwerk/die-hand-der-sichtbare-teil-des-gehirns/

Um das persönlich angeeignete Wissen wieder heraus-zu-geben, zu publizieren und dann wieder lesen zu können, muss ich schreibend denken können. Die Vielfältigkeit des Prozesses ist atemberaubend, sehr viele verschieden Hirnareale werden gleichzeitig beim Schreiben mit der Hand beansprucht, so kommt es zu einer starken Verknüpfung und abrufbaren Erinnerung im Gehirn. Mit dem Verzicht dieser Anstregung ist doch eigentlich ganz logisch, dass da was auf der Strecke bleibt, oder wie und wo wird diese Leistung aufgefangen? Die Frage dieses Jahr war: „Wie kann die Handschrift in der Normalität bleiben?“

Was als Widerstand […] erscheint, ist […] die Voraussetzung des Gelingens.“ (Thomas Fuchs)

Meine Gesprächs- und KorrespondenzpartnerInnen im Vorfeld für das zweite Gespräch der Beobachtungsreihe waren FreundInnen, KollegInnen, Lehrer, UnterstützerInnen: an erster Stelle: the one and only Helmut Brade, die mich immer wieder mit neuen Inhalten versorgendenen Gespräche dazu an seinem Tisch in Halle zusammen mit der bezaubernde Alena Fürnberg; neu dabei: Simone Fass, welche als Visuelle Übersetzerin in Leipig arbeitet und besonders an Methodik interessiert ist: ihr Thema Zeichnen als Übersetzung von Inhalt in leichte Sprache, besticht durch ein bildungsnahe Tiefe;

Arbeit von Simone Fass

Dann Berd Schekauski und Annett Mautner (MDR Kultur) wo ich am 23.1. mit der Feder ON AIR übers Papier kratzen durfte; ein Telefonat mit Frank Ortmann (Autor mit Renate Tost: Schreibenlernen mit der Hand bildet Formsinn und Verstand): er gab mir das griffige Argument: dass man auch nicht auf die Mathematik verzichtet, gleichwohl Computer schneller rechnen können. Und Christoph Türcke: der Vergleich vom Pianisten der ohne Übung sein Können verliert, bis es auch das Publikum merkt. Die Handschrift als Mnemotechnik. Geruch als Spur: Imre Hermann, Mirjam Reihl: „Wir fühlen, weil wir uns erinnern.“ (Aus ihrer Arbeit „Smells of trust“, Burg Giebichenstein), der Proust-Effekt. Elisabeth Thadden, Ferenc Jadi (“Von der Zeichnung“) überall stieß ich bei Recherchen auf weitere Verzweigungen. Santiago Ramon y Cajal mit seinen einmaligen Tuschezeichnungen des Gehirns.

The Beautiful Brain: The Drawings of Santiago Ramon y Cajal

Ich danke meiner Verlagspartnerin Karoline Mueller-Stahl, und Michael Klemm für ihre Geduld, den geistigen Austausch, Igor und Oskar Fürnberg für die Dokumentation und die helfenden Hände aus dem Literaturhaus Halle, besonders Alexander Suckel für den Rahmen und Raum an diesem Abend.

Mein Versuch die jeden Tag einen Satz per Hand zu schreiben – in Vorbereitung auf den Termin, hat dazu geführt, dass ich mittlerweile fast ausschließlich mit Tusche an meinem Tisch schreibe, mit einer englischen Stahlfeder von Helmut Brade, metallisch blau glänzend: Alltagsnotizen, Alltagszeichnungen, Postkarten, Abholvollmachten.

Die Handschrift benutze ich nur noch im Privaten . Das hängt damit zusammen, dass ich beruflich alles mit dem Telefon, der Tatstatur und den digitalen Werkzeugen erledige, da hat die Handschrift kaum noch Bedeutung, in meinem Studio gibt es nur einen ausgetrockneten Fineliner, mit dem ich auf Ausdrucken von Layouts ein paar Notizen hinschludere, die keinerlei Nachhaltigkeit besitzen.

Um meine Gedanken am Abend zu ordnen emnpfinde ich das Eintunken des Federhalters, der Geruch der Tusche, das kratzende Geräusch der Feder auf dem Papier: ein mit alle Sinnen ganz auf den Punkt (der Federspitze) reduzierter Moment. Der Prozess des Schreibens / Zeichnens gibt eine tiefe Befriedigung zurück, wenn man diesen beendet hat. Ein Gefühl das ich von früher kenne: es ist OFFLINE: es hat ein Ende, wie der geschriebene Satz.

Kein Vergleich: wenn ich am nachmittag meinen digitalen Arbeitsplatz verlasse: meist nur eine Unterbrechung in einem nicht endenden Fluss von Inhalten, wenn es sehr knapp ist: “Ruhezustand” bis zum nächsten Tag. Weil ONLINE die Tinte nie alle ist.

Digital Detox = Handschrift? Kann sie so überleben?

Die permanente Erreichbarkeit die heute Standard, ist entfernt uns oft von einem konzentrierten Fokus, das hat viel mit Gehirnchemie: Arbeits-ADHS stört diese versenkung in einen Gedanken durch die Ablenkung die die digitale Anwesenheit erfodert.

Das Schreiben mit der Hand braucht nur einen körperlichen Zugang erreichen: den zu meinem eigenen Vorrat an Gedanken und Ideen. Multitasking überflüssig.

Maria Magdalena Meyer (@graphicbiases): „Doppeltes Lottchen: Handschrift vs Smartphone”, 2024

https://www.deutschlandfunk.de/digitale-kompetenz-und-mediensouveraenitaet-sozialer-100.html

„Die Bilder haben übernommen.” (Clemens Meyer)

https://www.instagram.com/p/C27GOKeKWRV/?hl=de&img_index=1

https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2023.1219945/full

F. R. (Ruud) Van der WeelAudrey L. H. Van der Meer, 2024: Handwriting but not typewriting leads to widespread brain connectivity: a high-density EEG study with implications for the classroom

https://www.deutschlandfunk.de/ist-handschrift-bald-outdated-interview-prof-michael-becker-mrotzek-dlf-51c025ab-100.html

Simone Fass / Visuelle Übersetzerin, Helmut Brade, Maria Magdalena Meyer (MMKoehn)

https://simonefass.de/

„Bleibt die Handschrift in der Normalität erhalten?“

Helmut Brade, Handschrift 2023

„Bemüht das Bild durch schnelleren digitalen Konsum weniger bleibende Verknüpfungen im Hirn, als der von Hand geschrieben Text? Ist diese Mnemotechnik des Lernens dadurch vom analogen Tisch?“

Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen, Suhrkamp Wissenschaft, S. 112

„Sprache und Lesen als textliches Denken wird verlernt: wer nicht liest, schreibt auch nicht. „Lesend Denken“ – Ist der Mensch antiquiert?

Schutzmantelmadonna aus dem Handschriften-Zentrum der Universitätsbibliothek der Uni Leipzig (Albertina), Leiter: Christoph Mackert

Gäste am 23.1.24 Tag der Handschrift
Moderation: MMKoehn; Maria Magdalena Meyer (Grafik-Designerin, Verlegerin @mmkoehnverlag @grafikfiedlermeyer @maria.magdalenameyer @graphicbiases) im Gespräch mit:


Prof. Helmut Brade (Grafiker, Bühnenbildner, Typograf)
Roman Wilhelm (Grafiker-Designer, Type-Designer, Dozent, UDK Berlin, Typolabor)
Simone Fass (Illustratorin, Visuelle Übersetzerin (@visuelle.uebersetzerin)

Handschrift als Mnemontechnik
Handschrift als Werkzeug fürs Verstehen der eigenen Gedanken
Handschrift als unverzichtbares Ausdrucksmittel
Handschrift in der digitalen Welt als Zertifikat für Echtheit
Handschrift als Zeichnung
Drawing is like writing

Dunning-Kruger-Effekt, kognitive Verzerrung / cognitive bias, mit Tusche gezeichnet von Maria Magdalena Meyer zusammen mit ver.klemmt: @graphicbiases

Helmut Brade: Texte, S. 383 “Kalibrierung des Gehirns”

Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum Genetischen Code, S. 176

2023 Maria Meyer zusammen mit Christoph Türcke, Helmut Brade, Roman Wilhelm im Literaturhaushalle

Publikationen mit Texten von Christoph Türcke bei uns erschienen und im Shop erhältlich:

Yvette Kießling: Kuthamini / Devotion / Hinwendung

Publikationen von und mit Helmut Brade bei uns erschienen und im Shop erhältlich:

Helmut Brade: Plakate

Helmut Brade: Ich zeichne noch Buchstaben. Texte 1965–2017

Helmut Brade: Requisitenbriefe

Hendrik Tauché: Tristan und Isolde

Krister Follin

Helmut Brade: Kalender2024

Hartwig Ebersbach: Kasperzug

Wasserkalligrafie, China

Hopp Hopp rin in kopp, Motiv aus Kalender Schuster Meyer 2024

Kalender 2024 Maria M. Meyer mit ver.klemmt (Motiv unten), Martin Schuster (Motiv oben)

Publikationen von Martin Schuster bei uns erschienen und im Shop erhältlich:

SALAD DAYS. Martin Schuster 2014–2021